Zentralismus

Mit der Pflegeversicherung wurde ein zentralistisches, gesetzlich geregeltes System der Pflegebewirtschaftung installiert.
Nicht zuletzt die Wohlfahrtsverbände und allen voran die kirchlichen Pflegeanbieter haben sich dafür stark gemacht, dass Pflegebedürftige vor einer Marktfindung von Pflegeleistungen, ihrer Leistungsqualität und ihren Preisen weitgehend zu schützen seien.
Statt Markteintritte und -austritte von Leistungsanbietern über Leistungspreise und Leistungsqualität durch Angebot und Nachfrage steuern zu lassen, wurden pflegeversicherungsrechtlich festgelegt:
- die mögliche Pflegeleistungsdiversität (klassifiziert nach Grund-, Behandlungspflege und sozialer Betreuung),
- die für jeden Pflegebedürftigen möglichen Leistungsinhalte (u.a. Leistungskomplexen),
- die dem einzelnen zustehende Leistungsmenge, gleichsam das Mengengerüst (mittels Pflegestufen und nun Pflegegraden),
- die hierfür zu zahlenden Preise,
- die jeweils zu erbringende Leistungsqualität,
- die vom Anbieter vorzuhaltende Leistungsorganisation und -administration,
- ein eigens geschaffenes und gesetzlich fixiertes Qualitätsmanagementsystem mit einer extrem hohen Kontrolltiefe und -dichte.
Selbstredend kommt ein solches System auf Grund ungebremst steigender Kosten nicht umhin, auch auf die Nachfrage noch steuernden Einfluss zu nehmen und hierfür die Einhaltung eines Grundsatzes einzufordern: „Ambulant vor Stationär“.
Es darf angenommen, dass, wenn überhaupt, kaum eine andere wirtschaftlich bedeutende Branche wie der Pflegesektor ähnlich tiefenscharf bis in die feinsten Verästelungen der Nachfrage, des Leistungsangebots, der Organisation und Führung reguliert und gesteuert, ja man darf sagen, überreguliert und übersteuert wird.
Dies alles mit der allgemein für tragfähig erachteten Begründung, dass man die Schwächsten der Schwachen, die Pflegebedürftigen und entsprechend eingeschränkt Handlungsfähigen, nicht dem kalten Markt und seinen Gesetzen ausliefern dürfe, ohne zu bedenken, ob nicht gerade die Schwächsten der Schwachen dadurch noch schwächer werden, wie nicht zuletzt die ungebremst steigenden Kosten eines solchen Systems zeigen, die sie finanzieren müssen oder zu Sozialhilfeempfängern macht.
Und dies wiederum mit dem paradoxen Effekt, dass Marktverhältnisse umso ungebremster auf dem Arbeitsmarkt für Pflegekräfte (mit ständig noch oben sich windenden Gehaltsspiralen) Einzug gehalten haben und in den Einrichtungen eine Art „Taylorisierung“ (Schniering) der Arbeitsorganisation und Pflegearbeit stattgefunden hat.[1]
[1] Vgl. Stefanie. Schniering, Sorge und Sorgenkonflikte in der ambulanten Pflege. – Eine empirisch begründete Theorie der Zerrissenheit, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden, 2021).